on 12 June 1999

In die musikalische Zukunft horchen

 Auf dem "Olympus Musicus" in St. Petersburg brillierte der Nachwuchs

Zum vierten Mal nun schon hat Irina Nikitina ihren "Olympus Musicus" in St. Petersburg in Szene gesetzt: das freundschaftliche Treffen der muszierenden Wettbewerbssieger aus aller Welt. Posaunisten stossen auf Gitarristen, Dirigenten auf Xylophonspieler, Klaviertrios auf Geiger, Pianisten auf Saenger. Eine Heerschar von frischen Talenten gibt einander acht Tage lang die nobelsten Klinken der alten Kaiserstadt in die Hand.

Man konzertiert unter den schweren Luestern der schimmernd weissen, saeulengetragenen Philharmonie. Man wechselt hinueber in den cremefarbenen, goldornamentierten Kammermusiksaal nebenan. Man ist zu Gast im Marmorrund des Amphitheaters der alten kaiserlichen Eremitage, und ueberall stellt das Publikum seine Neugier, seine innere Beteiligung unter Beweis. In St. Petersburg hat man noch nicht verlernt, generoes zu bewundern. Der "Olympus Musicus" ueberrascht mit einer Fuelle von Talenten, denen zweifellos die naechsten Jahre gehoeren. Man horcht gezielt in die musikalische Zukunft hinein, und als Steigbuegelhalter bieten sich kollegial die Philharmoniker, die Symphoniker und als Kammerorchester ueberdies die "Camerata" der Eremitage an. Wie alle Orchester wollen auch diese kuenstlerisch erobert sein, und das gelingt der Spanierin Gloria Isabel Ramos im Handumdrehen. Im Vorjahr hat sie sich bereits auf dem Dirigier-Wettbewerb in Barcelona ausgezeichnet; in St. Petersburg, wirft sie sich leidenschaftlich in das grosse Musiktheater der "Romeo und Julia"-Ouvertuere Tschaikowskys, die spannungsvoll aus dem Frackaermel schiesst. Selbst Petrovs schmetternde Huldigungsmusik "Vivat, Olympus", das auskomponierte Motto des Festivals, laesst sie gewitzter erscheinen, als sie in den Noten steht.

Der russische Cellist Denis Shapovalov (25) spielt die Rokoko-Variationen Tschaikowskys mit der richtigen Mischung aus ueberlieferter Grazie und frischem Draufgaengertum. Yung Wook Yoo (21), der Sieger von Santander, feuerte in Rachmaninows 3. Klavierkonzert wahre Breitseiten an Ausdrucksballungen ab, deren Schwulst er indessen wie mit gespitzten Ohren durchhorchte.

Zwei Dinge wurden in diesem Jahr auffaellig: die zahlenmaessige Dominanz russischer Nachwuchstalente, zurueckzufuehren wahrscheinlich auf Etatschwierigkeiten, die es nahegelegt haben duerften, nicht zu ausgiebig in die teure Ferne zu schweifen. Zweitens wurde wieder deutlich, dass die jungen Leute das technisch Knifflige ueber Gebuehr favorisieren und mit hoechstem Effekt vorzutragen verstehen, waehrend ein harmloses Mozart-Adagio ihnen alle Waffen aus der fixen Hand schlaegt.

Der 20 Jahre alte Keisuke Okazaki aus Japan brannte in Henri Wieniawskis f-Moll-Konzert ein violinistisches Feuerwerk ab, ein junger Meistergeiger im Taschenformat, waehrend der erst 17 Jahre alte Russe Ilja Gringolt, Barcelonas Vorjahrs-Sieger im Paganini-Wettbewerb, mit Mozarts G-Dur-Violinkonzert KV 216 schwerelos die Sinne verwirrte. Die feinste Gemeinschaftsleistung bot das italienische "Trio di Parma", das Haydns Kunst-Ungarisch im B-Dur-Klaviertrio op. 70 Nr. 1 hinpfefferte. Die staerkste Anteilnahme aber schlug erwartungsgemaess und unumgaenglich dem blinden Takeshi Takehashi (22) entgegen. Seine Mutter studiert ihm durch wiederholtes Vorspielen im paedagogischen Schleichgang die Werke passagenweise ein, die der Junge sich dann zu lebhaften, leuchtenden und einleuchtenden Interpretationen zusammenschweisst, unterstuetzt beim Klavierkonzert G-Dur von Ravel ueberdies durch den ueberaus gelenken Tugan Sokhiev (gleichfalls erst 22), am Symphoniker-Pult.

 

Author: Klaus Geitel   Edition: Die Welt   Date: 12.06.1999