on 08 June 1999

Weltmeister im Fingergeflitz

Ideen muss man haben. Irina Nikitina, jung, charmant, eine glaenzende Pianistin, kribbelnd vor Unternehmungslust und Organisationstalent, hatte sie. Sie rief vor vier Jahren den "Olympus Musicus" in ihrer Heimatstadt St. Petersburg ins Leben: das alljaehrliche festspielgemaesse Rendezvous der internationalen Preistraeger in allen erdenklichen Musik-Disziplinen. Ein Festival der allumfassenden Talentschnupperei. In St. Petersburg schaufelt man seitdem die Startloecher fuer die grossen Karrieren.

Wettbewerbe gibt es inzwischen mehr als genug. Die dringendste Frage daher: Wohin mit der Fuelle der weltweit knospenden Talente? Deswegen haben die Preisverleiher inzwischen laengst als wichtigste Auszeichnung der Sieger ihnen ueber die Jahre hin eine bestimmte Zahl von Auftritten garantiert. Aber selbst das gleicht nur dem Tropfen auf dem beruehmt heissen Stein. Es gilt ueberhaupt erst einmal, einen ersten ohrenoeffnenden Ueberblick ueber das Gesamtangebot zu gewinnen. Dazu traegt der "Olympus Musicus" als einziges Festival vorbildlich und anfeuernd bei.

Drei ausgezeichnete Orchester, drei wundervoll klingende Saele stehen dem olympischen Musikreigen zur Verfuegung: die St. Petersburger Philharmoniker und Symphoniker und als Kammerorchester ueberdies die Camerata der Eremitage. Die Philharmonie in ihrer festlich weissen, saeulenumstandenen Pracht bietet sich fuer die grossprogrammierten Konzerte an. Die reinen Kammermusikabende erklingen im liebenswuerdig reich ornamentierten Saal ganz in der Naehe. Der Auftritt im kaiserlich pompoesen Amphitheater der Eremitage kommt danach einem optischen Paukenschlag gleich. Drei Raeume - drei unterschiedliche Herausforderungen.

Ihnen stellen sich junge Dirigenten und Saengerinnen, Schlagzeuger und Floetistinnen, Geiger, Pianisten, Gitarristen, Klavier-Trios, Cellisten. Die Auswahl ist bunt, aber nie kunterbunt. Das Publikum folgt den Auffuehrungen mit Kennerschaft und voll Herzlichkeit. Immer erneut loesen sich aus dem Publikum Rosenkavaliere, die nach vorne draengen, den jungen Solisten Blumen aufs Podium zu reichen.

Man sieht im Publikum erstaunlich viele artige kleine Maedchen mit den offenbar immer noch obligatorischen Schleifchen im Haar und Zappelphilipps von Jungen, die selbst bei Mozart noch immer von Fussball traeumen. Man fuehrt in St. Petersburg inzwischen deutlich die Enkel zur Kunst. Mit welchem Gewinn, wird sich ueber die Jahre herausstellen.

Aber die kleine englische Geigerin Chloe-Elise Hanslip im lang wallenden Damengewand, die Mozart spielt und die fingerbrecherische Campanella aus einem Paganini-Konzert, ist selber erst elf Jahre alt und hat doch schon in Novosibirsk einen hochangesehenen Preis gewonnen. Hier freilich, in St. Petersburg, spitzt man die Ohren eher dem Japaner Keisuke Okazaki (20) entgegen, der Henri Wieniawskis 1. Violinkonzert mit spruehender Tongebung aufs brillanteste nachzeichnet. An Virtuositaet ist in St. Petersburg wahrhaftig kein Mangel. Technische Unzulaenglichkeiten scheinen hier geradezu ausgestorben. Alles spielt auf, als gelte es eine Weltmeisterschaft im Fingergeflitz zu gewinnen. Das ist bestechend; musikalisch gerechtfertigt ist es nicht immer.

Unter den Dirigentinnen zeichnet sich Gloria Isabel Ramos aus, eine junge Spanierin, der es gelingt, ihr Temperament ohne Einbusse an struktureller Einsicht auf das Orchester zu uebertragen. Auch der junge Russe Tugan Sokhiev (22) erwies mit der Begleitung des Klavierkonzerts G-Dur von Ravel eine ebenso leichte wie energische Hand. Ihm war ueberdies die zusaetzliche Aufgabe aufgebuerdet, dem blinden japanischen Pianisten Takeshi Kakehashi (22) zur Seite zu stehen, der seine knifflige Aufgabe aufs feinsinnigste loeste.

Aber auch wie elegant und stilvoll der russische Cellist Denis Shapovalov (25) Tschaikowskys Rokoko-Variationen spielte, praegte sich nachhaltig ein. Und wie bravouroes der Koreaner Yung Wook Yoo (21) das 3. Klavierkonzert von Rachmaninow aufzubauen und auszukosten verstand.

Vielleicht aber fiel dennoch die hoechste Palme den drei jungen Italienern des Klavier-"Trio di Parma" zu und dem erst siebzehnjaehrigen russischen Geiger Ilja Gringolts, der Mozarts G-Dur-Violinkonzert KV 216 mit unvergleichlicher Frische und Suesse spielte, als sei jung zu sein und gleichzeitig ein Meister das Einfachste auf der Welt.

 

Author: Klaus Geitel   Edition: Berliner Morgenpost   Date: 08.06.1999