on 10 June 2001

Suess und sauer

Donnerwetter - war das eine Ueberraschung! Im Rahmen des 6. Festivals "Olympus Musicus" in Sankt Petersburg trat Danuta Waskiewicz, die frischgebackene 1. Solo-Bratschistin der Berliner Philharmoniker, an die Rampe im brechend vollen Amphitheater der Eremitage und spielte (noch dazu auswendig) das verstoerende und gleichzeitig betoerende Viola-Konzert von Alfred Schnittke. Mit diesem Stueck sollte sie sich baldmoeglichst auch in Berlin hoeren lassen. Selten wurde der Geist eines neuen Werkes derart intensiv und bezwingend aufgedeckt.

Von zwei Largo-Gesaengen mit Lamento-Charakter gerahmt, tieftraurigen Klagen ueber die Unsaeglichkeiten der menschlichen Existenz, der Unmoeglichkeit, im Leben ungeschoren davon zu kommen, springt der weitgespannte Mittelsatz geradezu kreischend in die rasanten Absurditaeten der Lebens-Comedy. Das Orchester taumelt dahin zwischen den kunstvoll gekosteten Moeglichkeiten des suessen wie sauren Kitschs - und die vornehme Stimme der Viola immer mitten darin: eine zeitweilig in die Operette verschlagene Heilige. Frau Waskiewicz durchspielte alle Stadien der heftig wechselnden musikalischen Schicksale spuersinnig, feinfuehlig und virtuos.

Etwas von diesem Charakter des Schnittke-Konzerts, seiner heftig kontrastierenden Gegensaetze, schien auch nach Zarskoje Selo uebergesprungen: in den blau-goldenen einherprunkenden Palast Katharinas der Grossen. Die Kaiserin sah sich jedoch diesmal durch einen Koenig entthront: den Walzerkoenig Johann Strauss mit den Kapriolen seiner "Fledermaus". Hier, im benachbarten Pawlowsk, waren immerhin fast zehn Jahre lang zur Sommerszeit Johann, Joseph und Eduard Strauss abwechselnd mit ihren Kapellen musizierend zu Gast. Nun denkt man daran, das alte Vergnuegungsparadies am Rande St. Petersburgs wieder herzustellen, und fьr diesen hochgemuten Zweck flossen alle Einnahmen aus der luxurioesen Schloss-Fete zusammen.

Irina Nikitina Haefliger hat sie ausgeheckt und durchgesetzt: die bezaubernde Hexenmeisterin der einander durchdringenden Kuenste. Ihr "Olympus Musicus" vereint auf dem Podium der St. Petersburger Philharmonie die Wettbewerbsgewinner aus allen erdenklichen Laendern und auf einer Vielzahl von Instrumenten. Mit dem erst siebzehnjaehrigen Ilya Kozlov prдsentierte sich im Tschaikowsky-Konzert ein Geiger, der offenbar faehig scheint, in die Spuren eines Maxim Vengerov zu treten. Die winzige, sogar noch ein Jahr juengere Madrilenin Leticia Munoz fetzte auf der ihr geliehenen Gagliano-Geige die "Zigeunerweisen" ihres Landsmanns Sarasate geradezu tausendfingrig herunter.

Die Kanadierin Marie-Nicole Lemieux sang mit cremigem Alt wundersame Orchesterlieder von Edward Elgar. Henri Sigfridsson aus Finnland, noch in Koeln in der Ausbildung, schlug mit Vehemenz und hochschaeumender russischer Seele das 3. Klavierkonzert Rachmaninoffs in die Tasten, lebhaft dabei akklamiert von Alexander Rachmaninoff, dem Enkel des Komponisten. Dorian Wilson, Generalmusikdirektor des Theaters Vorpommern, das Greifswald und Stralsund kьnstlerisch zusammenschliesst, erwies sich als derart tatkraeftiger Dirigent, dass man ihn fuer wuerdig befand, notfalls die Proben fuer den Baden-Badener Spaetheimkehrer Valery Gergiev zu leiten, der Hals ueber Kopf mit einem Privatjet in seine Heimatstadt einflog, um nackthaendig mit gewaltigen Orchesterausbruechen Prokofieffs 5. Sinfonie zu leiten.

Da eine einzige Gergiev-Schwalbe aber selbst an der Neva noch keinen musikalischen Sommer macht, wie ihn hochgemut die "WeiЯen Nдchte" versprechen, folgt Placido Domingo dem russischen Dirigentenfreund auf dem Fusse. Er wird unter Gergiev, nicht unter Barenboim, statt in Tel Aviv nun in St. Petersburg den Siegmund in der "Walkuere" singen und ueberdies auch noch "Aida" im Mariinsky-Theater dirigieren. Doch was ist schon eine todgeweihte Aida neben der intelligent, wagemutig und zaertlich einherleuchtenden Irina Nikitina? Das Musikleben der Stadt trдgt sie laengst wie eine berauschende Orchidee in ihrem musikalischen Knopfloch.

 

Author: Klaus Geitel   Edition: Berliner Morgenpost   Date: 10.06.2001